9 Jahre und gut erhalten - die Große Brennnessel
Bild 1: Die Große Brennnessel (Urtica dioica)
Jörg Weiß, vom 27.03.2020
Ab und an kann sich in einer stillen Ecke im Garten auch ein "Unkraut" lange halten. So war es bei uns im Jahr 2011 mit einigen Pflanzen der Großen Brennnessel (Urtica dioica). Ich war seinerzeit überrascht, wie dick der Spross einer älteren Pflanze werden kann, der dabei auch seinen typischen, quadratischen oder kreuzförmigen Querschnitt verliert. Die seinerzeit erstellten Schnitte zeigen eine interessante Struktur aus sklerenchymatischen und parenchymatischen Xylemzellen, die mich dazu gebracht hat, zwei Sprossstücke in Ethanol aufzubewahren. Diese sind mir die Tage wieder in die Hände gefallen - nach 9 Jahren. Da war die Neugier groß, in wie weit sich die Probe nach so langer Lagerzeit verändert hat. Das Ergebnis sehen Sie hier. Und wer vorher noch einmal schauen will, wie die Schnitte 2011 ausgesehen haben, wird
hier auf unserer Seite fündig.
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Interessantes zur Großen Brennnessel
Die Große Brennnessel (Urtica dioica) ist eine Pflanzenart der Gattung der Brennnesseln (Urtica) in der Familie der Brennnesselgewächse (Urticaceae). Sie ist überall auf der Nordhalbkugel abseits der Tropen und arktischer Regionen heimisch. Die Pflanze ist ein typischer Stickstoffzeiger und wurde durch die Eutrophierung und Entwässerung von Auwäldern und besonders im Saumbereich der Wälder oft übermäßig stark gefördert.
Bild 2: Spross der Großen Brennnessel mit kreuzförmigem Querschnitt und Trichomen
Die Große Brennnessel ist eine ausdauernde, zweihäusige Pflanze, die Wuchshöhen von 30 bis 300 Zentimeter erreicht. Der aufrechte, unverzweigte oder verzweigte Stängel ist stark kantig und hat einen Durchmesser von 3 bis 12 Millimeter. Über ihr kräftiges Rhizom bildet sie Ausläufer und kann so zu großen Horsten heranwachsen. Neben den kieselsäurehaltigen Brennhaaren ist sie zusätzlich mit kurzen, grauen Borstenhaaren und am Stängel und den Blattstielen mit Flaumhaaren besetzt.
Bild 3: Blattwerk der Großen Brennnessel
Die Blätter stehen gegenständig, die Blattstiele sind in der Regel weniger als ein Drittel so lang wie die herzförmige, zugespitzte Spreite. Diese ist matt, oberseits dunkelgrün und unterseits behaart, zwischen 6 und 20 Zentimeter lang und 2 bis 13 Zentimeter breit. Der Blattrand ist gesägt, selten doppelt gesägt.
Bild 4: Fast leerer Fruchtstand der Großen Brennnessel
Blütezeit ist von Juli bis Oktober. Die linealisch-pfriemlichen Nebenblätter sind frei, der Blütenstiel meist kürzer als der Blütenstand, eine Rispe. Die radiärsymmetrischen Blüten sind unscheinbar grünlich oder bräunlich. Die männlichen Blüten sind aufrechtstehend, das Perigon bis zur Mitte gespalten, der Zipfel am Ansatz am breitesten. Die weiblichen Blüten hängen oder sind zurückgebogen, die äußeren Blütenhüllblätter linealisch bis schmal spatelförmig oder lanzettlich und 0,8 bis 1,2 Millimeter lang, die inneren Blütenhüllblätter eiförmig bis breit eiförmig, 14 bis 1,8 Millimeter lang und 1,1 bis 1,3 Millimeter breit. Der Fruchtknoten ist oberständig.
Die Frucht ist eine eiförmige bis breit-eiförmige Nussfrucht, 1 bis 1,3 (selten bis 1,4) Millimeter lang und 0,7 bis 0,9 Millimeter breit. Die Samen haben eine TKM von 0,14 Gramm und sind frostkeimend.
Bild 5: Illustration aus Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz von Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé (Gera), Public Domain
Kraut und Blätter enthalten zahlreiche Inhaltsstoffe, als wichtigste Skopoletin und ß-Sitosterin, daneben 1 bis 2% Flavonoide (Quercetin-, Kämpferolglykoside), 1 bis 4% Silikate und neben weiteren Stoffen Vitamin C. Die Wurzel enthält zusätzlich 0,1% eines spezifischen Lektins, des sogenannten „Urtica dioica Agglutins“. Der Brennsaft enthält Histamin, Acetylcholin und Serotonin.
Als Heildroge werden frische oder getrocknete Brennnesselblätter (Urticae folium), getrocknetes Brennnesselkraut (Urticae herba) und getrocknete Wurzel (Urticae radix) verwendet. Sie werden als Tees, Extrakte oder Fertigpräparat angewandt.
Für die Blätter bzw. das Kraut ist bei innerer Anwendung ein leicht diuretischer Effekt belegt, innerlich wie äußerlich werden sie auch gegen rheumatische Erkrankungen eingesetzt. Extrakte der Wurzel werden zur Linderung von Miktionsbeschwerden in den Anfangsstadien der benignen Prostatahyperplasie gebraucht, welcher der enthaltenen Wirkstoffe dafür verantwortlich ist, ist noch unklar. In der Volksmedizin und der Homöopathie existieren noch weitere Nutzungen, deren Wirkung unbelegt ist.
In der Kosmetikindustrie dienen aus der Brennnessel erzeugte Bereitungen als Zusatz zu Shampoos, Haarwässern und Haarwuchsmitteln, da sie die Durchblutung des Haarbodens stärken.
Bild 6: Querschnitt durch den alten Spross der Großen Brennnessel: nicht mehr kreuzförmig sondern rund.
Die Große Brennnessel war bis ins 18. Jahrhundert wegen ihrer Bastfasern eine wichtige Faserpflanze, vorzüglich geeignet beispielsweise für feste Stoffe, Netze oder Stricke, geriet aber wegen ihrer mangelnden industriellen Verarbeitbarkeit ins Vergessen. Eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezüchtete Konvarietät mit hohem Faseranteil, die Fasernessel Urtica dioica convar. fibra, wurde im Rahmen des neu erwachten Interesses an alternativen Faserpflanzen in den 1990ern wieder entdeckt und züchterisch weiterbearbeitet. In Deutschland wird unter anderem diese Fasernessel heute im Vertragsanbau für die Firma Stoffkontor in Lüchow kultiviert, die die Fasern zur Textilherstellung nutzt. Ein finnisches Projekt nutzt zu diesem Zweck reine Wildtypen.
Brennnesselabkochungen werden wegen der enthaltenen Kieselsäure gern als Pflanzenstärkungsmittel gegen saugende Insekten eingesetzt, eine Jauche ist ein wertvoller Dünger.Die jungen Triebe der Brennnessel ergeben ein nahrhaftes, wohlschmeckendes Wildgemüse. Das Kraut eignet sich auch als Futter für Schweine, Rinder, Schafe und insbesondere Geflügel.
Kurz zur Präparation
Geschnitten habe ich den seit 9 Jahren in Ethanol 70% gelagerten Spross freistehend auf dem Tempelchen (Zylindermikrotom im Halter als Tischmikrotom) mit Leica Einmalklingen 818 im SHK Halter.
Die Schnittdicke beträgt ca. 50µm.
Nachfixiert wurden die Schnitte für ca. 4 Stunden in AFE. Nach Überführen in Aqua dest. waren die Schnitte dann bereit für die Färbung.
Gefärbt habe ich mit W-Asim III nach Klaus Herrmann für ca. 25 Minuten. Anschließend habe ich gut mit Aqua dest. gespült, eine Differenzierung ist bei dieser Färbung nicht notwendig.
Eingedeckt wurden die Schnitte nach gründlichem Entwässern mit reinem Isopropanol wie immer in Euparal.
Die Schnitte aus dem Jahr 2011 wurden nach dem Schnitt auf dem Handzylindermikrotom ebenfalls in AFE fixiert, mit W3A gefärbt und in Euparal eingedeckt. Die Präparate zeigen keinerlei Alterserscheinungen.
Bild 7: Die zum Schnitt eingespannte Probe auf dem Tempelchen mit SHK Klingenhalter
Die verwendete Technik
Die Aufnahmen sind auf dem Leica DMLS mit dem 5x NPlan und den PlanApos 10x, 20x und 40x entstanden. Die Kamera ist eine Panasonic GX7, die am Trinotubus des Mikroskops ohne Zwischenoptik direkt adaptiert ist. Die Steuerung der Kamera erfolgt durch einen elektronischen Fernauslöser. Die notwendigen Einstellungen zur Verschlusszeit und den Weißabgleich führe ich vor den Aufnahmeserien direkt an der Kamera durch. Der Vorschub erfolgt manuell anhand der Skala am Feintrieb des DMLS.
Alle Mikroaufnahmen sind mit Zerene Stacker V1.04 (64bit) gestackt. Die anschließende Nachbereitung beschränkt sich auf die Normalisierung und ein leichtes Nachschärfen nach dem Verkleinern auf die 1024er Auflösung (alles mit XNView in der aktuellen Version). Bei stärker verrauschten Aufnahmen lasse ich aber auch mal Neat Image in der Version 8.0 ran.
Bild 8: Mit W-Asim III nach Klaus Herrmann gefärbte Schnitte im Uhrglas
Der alte Spross im Vergleich
Und nun zu den Schnitten! Wie immer von der Übersicht zum Detail - wo es passt, stelle ich den aktuellen Präparaten die von vor neun Jahren gegenüber. zunächst verschaffen wir uns einmal einen Überblick:
Von Außen nach Innen finden wir die Epidermis mit der dünnen Cuticula und einigen angeschnittenen mehrzelligen Trichomen, gefolgt vom Rindenparenchym, in dem viele sklerenchymatische Fasern liegen. Darunter folgt das Phloem, an der Außenseite zusammengeschoben und disfunktional. Nach dem Cambium dann das Xylem, das bei diesem Schnitt sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wir sehen viele Tracheen, die in sklerenchymatisches und lebendes Xylemparenchym eingelagert sind. Dabei bilden die sklerenchymatischen Xylemparenchymzellen quasi eine Netzstruktur, die dem Spross zusammen mit dem Fasermantel im Rindenparenchym sowohl Festigkeit als auch Flexibilität verleiht. Weiter nach innen finden wir das primäre Xylem und schließlich das Markparenchym. Dabei ist der Spross als ganzes innen hohl. Die Ränder der Markhöhle weisen dabei auf eine lysigene Bildung hin.
Spannend ist der Vergleich mit dem klassischen, kantigen bis kreuzförmigen jüngeren Spross der Großen Brennnessel, der kantig bis kreuzförmig ausfällt. Siehe die Links in der Einleitung des Beitrags.
Informationen zu den Abkürzungen im beschrifteten Bild 9b finden Sie wie immer hier auf der Webseite des MKB:
Tabelle mit den Kürzeln und den zugehörigen allgemeinen Erläuterungen.
Zum Vergleich eine Übersichtsaufnahme aus dem Jahr 2011:
Bild 9d: Übersicht des vor 9 Jahren präparierten Sprosses, die Färbung hier ist W3A, also die Sukkzedanfärbung in 3 Färbegängen mit Acridinrot, Acriflavin und Astrablau.
Die folgenden drei Aufnahmen zeigen die äußeren Gewebe des Sprosses bis zum Cambium und dem jungen Xylem in höherer Vergrößerung, jeweils mit Maßstab.
Und in der Gegenüberstellung wieder eine Aufnahme aus 2011, die diesmal vom Ausschnitt nicht ganz passt:
Bild 10d: So sahen die äusseren Gewebe des Sprosses im Präparat vor 9 Jahren aus
Wir sehen, dass sich das Probenmaterial in der langen Zeit im Ethanol kaum verändert hat. Allerdings zeigt sich auch, dass Robin Wacker Acridinrot mit Bedacht gewählt hat.
Nun also zum Xylem, das wirklich sehr photogene Stellen zeigt. Beginnen wir wieder mit den Fotos von den aktuellen Präparaten, in der Serie mit ansteigender Vergrößerung.
Und einige Impressionen von den Schnitten aus 2011:
Auffällig ist hier das ausgeprägte "Reaktionsholz" (nach innen verdickte Zellwände, hier grün angefärbt, am besten in den Bildern 11i und 11l), das so im aktuell präparierten Sprossstück nicht mehr zu finden ist. Es stammt von etwas weiter oben im Spross, offenbar gab es dort keine ausreichenden Querkräfte mehr, um die Zellen zu diesen Bildungen anzuregen.
Soweit nun mein Vergleich zwischen dem im März 2020 und dem vor neun Jahren in 2011 präparierten Sprossstück. Wie man sieht: das lange Ethanolbad hat nicht geschadet, die Unterschiede sind der anderen Färbung (Rhodamin b statt Acridinrot) und der anderen Position in der Probepflanze geschuldet.
Literatur und Links
[1] Mikroskopisch-botanisches Praktikum
Gerhard Wanner
, Thieme, 2. Auflage 2010
[2] Pflanzenanatomie
Katherine Esau, Gustav Fischer Verlag, 1969
[3] Botanische Schnitte mit dem Zylindermikrotom
Jörg Weiß, MBK 2011
[4] Botanische Färbungen im Vergleich
Jörg Weiß, MKB 2019
[5] Tabelle der Abkürzungen zur Pflanzenanatomie
Jörg Weiß, MKB 2013
[6] Große Brennnessel auf Wikipedia
Wikipedia in deutscher Sprache
[7] Atlas of Stem Anatomy in Herbs, Shrubs and Trees
Fritz Hans Schweingruber, Anett Börner, Ernst-Detlef Schulze
Springer 2011
Bildquellen
- Bild 1: Die Große Brennnessel
Aufnahme von Frank Vincentz
GFDL (CC BY-SA 3.0), Wikipedia
- Bild 5: Illustration zur Großen Brennnessel
Aus Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz
Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé, Gera, 1885
www.biolib.de, Public Domain
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