Bärtierchen unter dem SEM
Bild 1: Ein Bärtierchen aufgenommen mit dem SEM S-4000 von Hitachi
Horst-Dieter Döricht, vom 01.01.2016
Zu den seltsamsten Wesen in der Welt der mikrosko- pisch kleinen Lebewesen gehören die Bärtierchen.
Es gibt weltweit über ein- tausend registrierte Arten, die sich sehr schnell weiter entwickeln und sich ihren örtlichen Lebensbedingungen ausgesprochen schnell an- passen können. Jährlich werden bis zu zehn neue Arten entdeckt. Man hat sie im Lateinischen als Tardigradia bezeichnet. Tardus bedeutet „langsam" und gradus ist der Begriff für den „Schritt".
Anton van Leeuwenhoek, ein niederländischer Naturforscher, entdeckte 1702 beim Aufweichen von vertrockneten Moosproben im Wasser, dass im Moos kleine Lebewesen erwachen und nach kurzer Zeit aktiv werden - vermutlich war dies die erste beschriebene Beobachtung der "Wasserbären", auch wenn die ersten wissenschaftlichen Beschreibungen gut 70 Jahre später veröf- fentlicht wurden (Johann August Ephraim Goeze 1772 und Johan Conrad Eichhorn 1775)
Bild 2: Bärtierchen auf einer Schautafel für den Schulunterricht
Auf der Schautafel ist die einfache Anatomie der Tardigradae gut zu erkennen. Quelle: Webseite der TU Berlin.
Viele Bärtierchenarten leben unter Baumrinden, in Teichen, Dachrinnen und im feuchten Moos, es gibt aber auch maritime Arten, die sich im Spülsaum an der Meeresküste wohl fühlen. Sie sind meist kleiner als einen Millimeter und sehen mit ihren acht Beinen aus wie kleine Raupen, die nur ein Maul besitzen. Äußerlich faltig und unscheinbar sind sie doch wahre Überlebenskünstler. Sie besitzen ein Nervensystem und verfügen über sehr starke Muskeln. Ihre Außenhaut ist ausgesprochen widerstandsfähig und trotzdem hoch elastisch, dabei ist sie aus drei Schichten aufgebaut und nur fünf tausendstel Millimeter dick.
Tardigrada häuten sich regelmäßig in Abständen, deren Zeitspannen von den Umgebungsbedingungen abhängen. Mit ihren Körperbewegungen unterstützen sie ihre Verdauung. Sie leben eingeschlechtlich, legen ihre Eier in die abgestoßene Haut-Hülle und sind mit keiner uns bekannten Tiergattung verwandt. Man hat sie deshalb in die Schublade der Häutungstiere (Ecdysozoa) einsortiert.
Manche Bärtierchenarten leben räuberisch, aber es gibt auch Allesfresser oder reine Pflanzenfresser. Sie ernähren sich von Kleinalgen, abgestorbenen Pflanzenresten und Kleinlebewesen im Wasser und machen auch vor Fadenwürmern und anderen Bärtierchen nicht halt. Sie saugen die Nahrung mit ihrer Mundöffnung an, dabei verhindert bei vielen Arten ein Kranz aus 10 bis 30 harten, meist quaderförmigen Hautvorsprüngen ein Abrutschen. Anschließend wird die angegriffene Zelle mit den Stiletten angestochen und ausgesaugt. Die Stilette werden von den beiden Speicheldrüsen gebildet und liegen in Ruhestellung in entsprechenden Taschen.
Bild 3: Kopfpartie mit den vorderen Verdauungsorganen
Man erkennt die Speicheldrüsen, den Kaumagen und darin die Markoplakoide, die bei der Zerkleinerung der Nahrung helfen (vermutlich Ramazzottius oberhaeuseri ).
Die Widerstandkraft der Tardigradae - Arten gegenüber den Umgebungs- bedingungen ist enorm. Sie halten Temperaturen von über 150 Grad stand und ertragen Minustemperaturen von 270 Grad. Im Vakuum des Weltraums haben von zehn Bärtierchen acht über einen Zeitraum von zehn Tagen überlebt.
Diese Versuche wurden im Jahr 2007 mit dem Experiment Foton M3 und dem BIOLAB M6 gemacht. Die Biosonde wurde mit einer Sojus Rakete in eine 270 Km Umlaufbahn gebracht und umkreiste die Erde 12 Tage lang. Bei Druckkammer-und Bestrahlungsversuchen mit Röntgen-, UV-Strahlung und Drücken von 1000 bar blieben die Bärtierchen unbeeindruckt. Berechnungen zufolge könnten sie über 100 Jahre alt werden. Man hat schon fünf Häutungen bei einer Spezies beobachtet. In Experimenten hat man festgestellt, dass die Bärtierchen 18 Jahre lang im kryptobiotischen Zustand verbringen können. Sie versetzen sich dabei in einen todesähnlichen Zustand und fahren ihre Lebensfunktionen komplett herunter. Ihr Stoffwechsel arbeitet dabei am absoluten Minimum.
Wenn sich die Lebensbedingungen wieder positiv verändern, erwachen die Bärtierchen aus ihrem Tiefschlaf. Nach etwa 20 Minuten drücken sie ihre Beinchen nacheinander aus dem zusammengekrümmten Körper. Es sieht unter dem Mikroskop aus als wenn acht Beinchen nacheinander aus einer Tonne heraus ploppen. Das geht blitzschnell und ist faszinierend zu beobachten.
Siehe hierzu auch der Artikel aus Der Welt [4].
Bild 4: Bärtierchen in der Totalen
Ein Bärtierchen (vermutlich Ramazzottius oberhaeuseri ) in seinem Element
Bärtierchen tragen weit mehr fremde DNA in ihrem Genom als von jedem anderen Tier bekannt ist, berichten Bob Goldstein von der University of North Carolina und Kollegen im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences". 6000 sogenannte Alien-Gene entdeckten die Forscher im Bärtierchengenom. Damit stammt jedes sechste Gen (17,5 Prozent) aus einem anderen Lebewesen.
Georgios Koutsovoulos von der University of Edinburgh und Kollegen veröf- fentlichten bereits kurz nach der ersten Studie die vorläufige Zusammenfassung einer zweiten Genanalyse, in der sie die gleiche Bärtierchenart genetisch untersucht hatten wie ihre Vorgänger. Auch die DNA-Proben stammten aus dem gleichen Labor, allerdings fanden die Forscher nur ein bis zwei Prozent Fremdgene.
Wie kam es nun zu den widersprüchlichen Forschungsergebnissen?
Es hat sich herausgestellt dass die Bärtierchen Nahrungsbakterien und deren Gene in ihrem Körper aufbewahren. Das geschieht beim Austrocknungsprozess. Die Bakterien und ihre Gene werden im ausgetrockneten Körper eingeschlossen und geschützt. Diese Gene werden von dem Bärtierchen nach dem Aufwachen dringend benötigt. Nach der langen Zeit der Austrocknung sind seine eigenen Gene teilweise zerstört. Es repariert mit den Genen der Bakterien seine eigenen defekten Gene. Dadurch entsteht eine Vielfalt neuer, völlig unbekannter Genkombinationen.
Die Bärtierchen überleben so, seit Millionen Jahren, mit ihren gezielten Genmanipulationen die widrigsten Umweltbedingungen und produzieren damit jährlich über zehn neue Arten. Sie passen sich sehr schnell an die sich verändernden Umweltbedingungen an. Wir können von Ihnen sicher eine Menge lernen.
Interessant wäre zu wissen, wie diese Spezies in mehreren Millionen Jahren aussieht. Denn eines dürfte klar sein: Die Tardigradia werden zu den letzten Lebewesen gehören, die noch auf der Erde existieren können, wenn alles höhere Leben bereits ausgestorben ist.
Bild 5: Das SEM Hitachi S-4000 an der Universität Kassel, mit dem die folgenden Aufnahmen entstanden sind.
Die nun folgenden Aufnah- men wurden mit dem Hitachi S-4000 Scanning Electron Microscop (SEM) der Uni- versität Kassel gemacht.
Die Präparation wurde im 3-Punkt-Trocknungsverfahren im Labor der Universität vor- genommen. An den leichten Beschädigungen der Tardi- graden im Brustbereich kann man erkennen, dass noch ein wenig Feuchtigkeit vorhanden war, als die Kammer evakuiert wurde.
Bilder 6 bis 20: SEM Aufnahmen von Bärtierchen
Literatur
[1] Das Bärtierchen-Journal
Martin Mach hat den Tardigraden eine ganze Webseite gewidmet.
[2] Das Leben im Wassertropfen
Streble / Krauter, Kosmos, 12. Auflage 2010.
[3] Bärtierchen bei Wikipedia
Ausführlicher Artikel in der Online-Enzyklopädie.
[4] Warum Bärtierchen so gut wie unzerstörbar sind
Die Welt, 25.11.2015.
[5] HDDs Mikrowelten
Die Webseite des Autors
[6] Universität Kassel
Webseite der Universität Kassel
Bildquellen
- Bild 2: Aufnahme einer Lehrtafel über Bärtierchen (TU Berlin)
- Bild 3 und 4: Lichtmikroskopische Aufnahme eines Bärtierchens von Jörg Weiß
- Bild 5: SEM Arbeitsplatz mit dem Hitachi S-4000 von der Universität Kassel
- Alle weiteren Aufnahmen vom Autor des Textes (Präparation H.G. Kindlein)
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