Statolithenstärke im Hypokotyl der Mistel (Viscum album L.)?
Abb. 1: Bergahorn mit Misteln in Südfrankreich
Angelika Heinze, vom 21.03.2024
Die bei uns einheimische Weißbeerige Mistel, Viscum album L., fällt im Geäst ihres Wirtsbaums insbesondere im Winter als dicht belaubter, grüner Busch auf (Abb. 1). Die kugelige Form der Mistelbüsche kommt dadurch zustande, dass die Mistel nicht – wie es pflanzentypisch ist – aufrecht wächst, sondern ihre Triebe von ihrem Ansatzpunkt am Baum rundum in alle Richtungen wachsen. Als junge Pflanze jedoch wächst die Mistel zunächst aufrecht, entgegen der Schwerkraft (Abb. 2). Die Ausbildung des Kugelbusches beginnt erst, wenn die Mistel nach ca. 3-4 Jahren blühreif ist. Dann nehmen alle neuen Triebe, die zunächst ebenfalls noch aufrecht wachsen (Abb. 3), nach einer Phase von Nutationsbewegungen – im Zeitraffer als Hin- und Her-Pendeln sichtbar – solche Positionen ein, die nicht mehr negativ gravitrop, also entgegengesetzt zur Schwerkraft-Richtung, orientiert sind, sondern sich auf den eigenen Mittelpunkt, die Ansatzstelle am Baum, beziehen (Göbel und Dorka 1986). Das wiederholt sich Jahr für Jahr und führt schließlich zu dem mistelspezifischen Kugelbusch.
Abb. 2: Aufrecht wachsende Triebe am jungen Mistelbusch
Abb. 3: Neue, aufrecht wachsende Jahrestriebe am Kugelbusch
Neben den beiden genannten Phasen kann es auch bei der Keimung der Mistel negativ gravitropes Wachstum geben. Als Semiparasit hat die Mistel keine Wurzeln, mit denen sie Wasser und Nährstoffe aufnehmen könnte, sondern sie muss Anschluss an die Leitgefäße ihrer Wirtspflanze bekommen. Wie erreicht sie das? Die Samen der Mistel gelangen in der Regel auf die Oberseite der Wirtsbaumzweige, indem sie von Vögeln, die die Mistelbeeren fressen, ausgeschieden oder vom Schnabel abgestreift werden. Dort kleben sie fest und die aus den Samen austreibenden Keimstängelchen (das sog. Hypokotyl, der Stängelabschnitt unterhalb der Keimblätter) wachsen zunächst vom Licht weg, negativ heliotrop, und erreichen so in der Regel auf kürzestem Wege die Baumrinde (Abb. 4). Nach Kontakt mit dem Wirtsbaum bildet sich das Ende des Hypokotyls zu einer Haftscheibe um, von der aus ein Senker in das Wirtsgewebe eindringt. Wenn durch negativ heliotropes Wachstum kein Kontakt erreicht wird, geht das Hypokotyl zu aufrechtem Wachstum über, entgegen der Erdenschwere.
Abb. 4: Mistelsame auf der Oberseite eines Zweiges. Das austreibende Hypokotyl hat die Baumrinde erreicht.
Diese Verhältnisse bei der Keimung hat Tubeuf (1923) experimentell überprüft und das aufrechte Wachstum des Hypokotyls als eindeutig negativ gravitrop bestimmt (Abb. 5). Als Grundlage gravitropen Wachstums gelten seit der von Haberlandt (1900) und Němec (1900) aufgestellten Statolithentheorie kleine Stärkekörnchen, die in den Zellen frei beweglich sind. Sie verlagern sich aufgrund ihres Gewichts an die jeweilige Basis der Zellen und vermitteln die Richtung der Schwerkraft. Haberlandt hat anhand eigener Untersuchungen an Misteltrieben festgestellt, dass die Mistel keine Statolithenstärke aufweist (1903). Das führte zu der Frage, ob Haberlandts Aussage pauschal gültig ist und ob im erwiesenermaßen negativ gravitrop wachsenden Hypokotyl der Mistel nicht doch Statolithenstärke zu finden sein müsste. Tubeuf hat zum Vorkommen von Statolithen im Mistelhypokotyl nichts veröffentlicht. Um nachzuweisen, dass und unter welchen Bedingungen das Hypokotyl der Mistel gravitrop wächst, reicht die Beobachtung mit bloßem Auge aus. Die Stärkekörnchen selbst können dagegen nur mikroskopisch nachgewiesen werden. So erfolgte mangels eigener Möglichkeiten meine Anfrage an das MKB und Anton Berg hat 2023, genau 100 Jahre nach Tubeufs Veröffentlichung, mit großem Einsatz und unermüdlich auf der Suche nach Statolithen meine Proben bearbeitet. Auch an dieser Stelle nochmals herzlichen Dank dafür!
Abb. 5: Aufrechte Mistel-Hypokotyle nach 7,5-wöchigem Wachstum unter natürlichen Lichtverhältnissen und 12 Wochen im Dunkeln (aus Tubeuf 1923)
Entsprechend Tubeufs Experimenten wurden Mistelsamen zunächst im Licht zum Keimen gebracht und nachdem die austreibenden Hypokotyle in der Phase negativ heliotropen Wachstums eine mehr oder weniger waagerechte Stellung erreicht hatten, wurde verdunkelt. Als somit eine Orientierung am Licht ausgeschlossen war, änderten die Hypokotyle ihre Wachstumsrichtung und wuchsen aufrecht (Abb. 6-9). Die in dieser Position abgenommenen Hypokotyle wurden sofort einzeln in AFE überführt. Anton Berg hat Radialschnitte des gesamten Hypokotyls angefertigt (Abb. 10) und konnte durch Anfärbung mit Lugolscher Lösung kleine Stärkekörnchen nachweisen, die vermehrt im basalen Bereich des Hypokotyls zu finden waren. Sie lagen zum allergrößten Teil jeweils auf derjenigen Seite der Zelle, die nach unten gerichtet war (Abb. 11). Aufgrund der Färbung, Kleinheit, Anzahl und Position dieser Strukturen halten wir sie nicht nur für Stärkekörnchen, sondern für Statolithen. Dass es tatsächlich Statolithen sind, sollen weitere Versuche zeigen. Wenn aufrecht gewachsene Hypokotyle in eine andere Position gebracht werden, z. B. um 180° gewendet, und sich dann auch die Stärkekörnchen auf die gegenüberliegende Zellwand umlagern, wäre das ein weiterer Hinweis. Ändert sich nach Umlagerung auch die Wachstumsrichtung des Hypokotyls entgegen der Schwerkraftrichtung, wäre endgültig nachgewiesen, dass es sich bei den vorhandenen Stärkekörnchen um Statolithenstärke handelt.
Abb. 6-9: Wachstum des Hypokotyls im eigenen Versuch
Abb. 10: Probe 24, Radialschnitt des auf Abb. 9 im Vordergrund stehenden Hypokotyls, mit Lugolscher Lösung angefärbt
Abb. 11: Detail aus Abb.10, Ausschnitt vom unteren, gebogenen Bereich des Hypokotyls
Literatur und Links
Göbel, Thomas, Dorka, Rolf, 1986: Zur Morphologie und Zeitgestalt der Mistel (Viscum album L.), Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1986
Haberlandt, 1900: Ueber die Perzeption des geotropischen Reizes, Berichte der deutsch. Bot. Gesellsch., Bd. XVIII
Haberlandt, Gottlieb Johann Friedrich, 1903: Zur Statolithentheorie des Geotropismus, Pringsheims Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik, 38. Bd., 3. Heft, S. 447-500
Němec, 1900: Ueber die Art der Wahrnehmung des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen, Berichte der deutsch. Bot. Gesellsch., Bd. XVIII
Tubeuf, Karl Freiherr von, 1923: Monographie der Mistel, R. Oldenbourg Verlag, München und Berlin
Bildquellen
- Bild 5: Aufrechte Mistel-Hypokotyle nach 7,5-wöchigem Wachstum unter natürlichen Lichtverhältnissen und 12 Wochen im Dunkeln
aus Tubeuf 1923
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